‚Wohnen für Hilfe‘ – eine Win-Win- Situation für Alt und Jung

Seit 2021 lebt der Student Leon Pascal mit der 98-jährigen Anneliese in deren Haus in Gräfelfing. Das generationsübergreifende Wohnangebot ‚Wohnen für Hilfe‘ vom BEINANDER e. V. hat die beiden zusammengebracht: Es ist eine spezielle Wohngemeinschaft, denn Anneliese ist dement.

Leon-Pascal spricht über seine Erfahrungen: „Mein Name ist Leon-Pascal, ich bin 22 Jahre alt und wohne nun seit über zwei Jahren bei Anneliese (98) in Gräfelfing. Zu Beginn war Anneliese noch sehr fit. Sie fuhr noch selbst Fahrrad und ging einkaufen. Hin und wieder haben wir gemeinsam gegessen, waren spazieren oder haben im Garten gearbeitet. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass Anneliese zunehmend unter Demenz leidet. Es hat mit Kleinigkeiten angefangen, wie z. B. : dass sie ihr Fahrrad beim Einkaufen vergessen hat und dachte, es sei gestohlen worden. Dass diese Lebenssituation für mich herausfordernd werden würde, merkte ich rasch: Sie klopfte bei mir und meinte, dass ihre Mutter noch nicht nach Hause gekommen sei, wir müssten sie sofort suchen gehen. Was sagt man in so einem Moment? Die Wahrheit oder sucht man einfach mit? Da ich zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Erfahrung mit Demenz hatte, musste ich einen Weg finden, wie ich damit am besten umgehe. Nach einiger Zeit hatte ich ein Gefühl dafür entwickelt und durch den ständigen Austausch mit Annelieses Kindern und einer Beratungsstelle war auch ein Wohnen unter diesen Umständen möglich.

Ziemlich beste Freunde Anneliese & Pascal
Foto: BEINANDER e. V.

Mein Alltag unterscheidet sich sicherlich von dem vieler anderer Wohnpaare, doch gleichzeitig ermöglichen meine Hilfen Anneliese, dass sie in ihrem Zuhause wohnen bleiben kann. Meine Hauptaufgabe liegt darin, ihr zuzuhören und sie abzulenken, wenn sie wieder in einer ihrer Realitäten verloren gegangen ist. Die Pflegeaufgaben und den Haushalt übernehmen die Tochter, der Schwiegersohn und seit kurzem kommt drei Mal am Tag ein Pflegedienst vorbei. Das Ganze ist nur unter dem Aspekt umsetzbar, dass ich nahezu seit Beginn der Demenz hier wohne, sie mich also kurz vor ihrer Erkrankung kennengelernt hat und ich ihr vertraut geworden bin. Für mich ist es neben den Herausforderungen auch ein Ausgleich zu meinem Studium geworden. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, sensibel zu kommunizieren, denn ältere Leute spüren jeden Unterton im Gesprochenen. Dazu gehört aber auch, nicht jedes Wort und jede Stimmung persönlich zu nehmen. Ich durfte lernen, mich abzugrenzen. Dazu gehört es, sein eigenes Ding zu machen, auch wenn zu Hause immer etwas passieren kann oder zu gewissen Uhrzeiten nur noch im äußersten Notfall ansprechbar zu sein.

Gleichzeitig tauchen Fragen auf, mit denen man unter normalen Umständen nur wenig Kontakt hat. Wie ist es, wenn ein Mensch bald stirbt? Was kommt nach dem Tod? Was bedeutet Leben für einen Demenzkranken, wenn Erinnerungen oder die Liebsten durcheinandergebracht werden? Auch wenn ich mir Wohnen gegen Hilfe anders vorgestellt habe, möchte ich diese Zeit nicht missen. Es war selbstverständlich ein finanzieller Segen für mich als Student, ich konnte aber auch über den Tellerrand hinausblicken und ältere Menschen und deren Herausforderungen im Leben, einschließlich der Komplexität durch das Verschwimmen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besser verstehen.

Bei ‚Wohnen für Hilfe‘ ist immer eine Ansprechpartnerin für mich da. Die Mitarbeiterin fragt regelmäßig nach, ob ich mit der Situation zurechtkomme und würde mich notfalls in eine andere Wohnpartnerschaft vermitteln. Sie hat mir auch Fachbroschüren zum Thema Demenz gleich anfangs zukommen lassen. Natürlich ist sie auch mit der Tochter in regelmäßigen Kontakt.“

Die Tochter Ulrike schildert die Wohnpartnerschaft aus ihrer Sicht: „Meine Mutter Anneliese war ihr ganzes Leben gesund und eine sportliche Frau. Sie war immer mit dem Rad unterwegs, machte im Alter von 90 Jahren noch Bergtouren in den Dolomiten und fuhr mit über 80 noch mit Freunden in den Skiurlaub. Leider war die „gute Zeit“ auch bei ihr mit ca. 95 zu Ende und sie konnte sich nicht mehr richtig organisieren. Immer mehr Dinge klappten nicht mehr. Vermutlich war das der Anfang der Demenz. Für uns war es schwierig, dass sie selbst nicht einsehen wollte, dass jetzt Hilfe angesagt war. Jede Art von „Hilfe von außen“ wurde grundsätzlich abgelehnt, ebenso ein Hausnotruf! Als dann unser jüngster Sohn, der eineinhalb Jahre bei seiner Oma im Souterrain wohnte, mit seiner Freundin zusammenzog, war meine Mutter plötzlich alleine im Haus. Ihre Jammerei über Einsamkeit und unsere Angst „was wäre, wenn sie stürzt und keiner merkt es“ nahm plötzlich immens zu.

Dann haben wir von ‚Wohnen für Hilfe‘ gelesen und das erschien uns das Richtige zu sein. Schnell wurden uns eine junge Frau und ein junger Mann vorgestellt, die in Frage kommen könnten. Wir haben uns sofort für Leon entschieden, obwohl meine Mutter weiterhin abwehrend gegenüber Hilfe war. Aber es war die richtige Entscheidung und absolut die richtige Wahl. Leon hat am Anfang nur bei der Gartenarbeit, beim Einkaufen und auch mal beim Kochen geholfen und sich abends mit meiner Mutter zusammengesetzt. Mit zunehmender Demenz bei Anneliese wurde er aber auch ´Seelsorger`. Er ließ sich sogar mit mir zusammen bei der Alzheimer Gesellschaft über die Krankheit und den Umgang damit beraten und erstaunte mich immer wieder mit eigenen Ideen, wie er auf sie zuging. Es dauerte auch nicht lange, dann hatte Anneliese Leon ins Herz geschlossen und meinte sogar, er gehöre ja schon zur Familie.

Mittlerweile ist die Demenz sehr fortgeschritten. Leon hat viele verschiedene Phasen mit Anneliese erlebt und immer richtig reagiert und das getan, was im Moment wichtig für sie war und ist. Solange Leon bei ihr wohnt, fühlen wir uns entspannter, da er viele Situationen auffängt, für die wir sonst vor Ort sein müssten. Wir sind daher sehr dankbar, dass er da ist. Dennoch ist es wichtig zu sagen, dass es auch eine Verpflichtung der Angehörigen gegenüber den jungen Menschen gibt. Sie dürfen nicht ausgenutzt werden. Der enge und freundschaftliche Kontakt ist daher sehr wichtig, um schnell reagieren zu können, wenn „gerade etwas anbrennt“.

Bei Interesse an ‚Wohnen für Hilfe‘ melden Sie sich gerne bei: BEINANDER e. V. ‚Wohnen für Hilfe‘ Landkreis München, Leonrodstraße 14b, 80634 München, Tel: 089 1392 8419 – 20; E-Mail: wfh@beinander.org;

Homepage: www.beinander.org

07.11.2023