Bei unserer diesjährigen Zusammenkunft hier an der Gedenkstätte an der Hochleite möchte ich Bezug nehmen auf große Ereignisse der Vergangenheit, zwei Friedensschlüsse, die sich in diesem Jahr in besonderer Weise jähren: Der Westfälische Friede, der am 24.10.1648 in Münster und Osnabrück unterzeichnet wurde, jährt sich in diesem Jahr zum 370. Mal. Zum 100. Mal jährt sich das Ende des I. Weltkriegs. Er endete mit der Niederlage des Deutschen Reiches und dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich in Compiegne am 11.11.1918. Das tiefe Gefühl der Niederlage sollte noch folgenreiche Auswirkungen haben.
Ich möchte deutlich machen, dass sich aus diesen Ereignissen für uns eine neue Sichtweise auf den „Volkstrauertag“ ergeben kann, an dem wir der Toten und Vermissten der Kriege und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken:
Nach den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges, nach dem Ausbruch von Seuchen und den Massenmorden von Marodeuren hat es in Deutschland Millionen Tote gegeben, ganze Landstriche waren entvölkert. Damals schuf man Sammelgräber, auch Massengräber genannt, wie sie nach Schlachten und Kriegen üblich waren. Nichts erinnerte danach an die Toten, kein Gedenkstein, kein Kreuz. Sie blieben anonym.
Erst mit der Genfer Konvention von 1864 und den Haager Abkommen ab 1899 änderte sich dies. Krieg galt zwar noch immer als legitimes Mittel der Politik. Aber mit dem Beginn des „Humanitären Völkerrechts“ änderte sich der Blick auf das Schicksal des am Krieg beteiligten Individuums.
Mehr und mehr galt auch die Erinnerung an den Namen, die Herkunft und die Lebensdaten eines Gefallenen als wichtig. Später fanden auch die „Rechte“ eines im Krieg Verstorbenen und die Anrechte der Familien auf einen Trauerort und die Erinnerung an die Person Eingang in das Humanitäre Völkerrecht.
Während und nach den Schlachten des Ersten Weltkriegs auf dem Gebiet Nordfrankreichs und Belgiens, den Schlachten des sogenannten Stellungskrieges, bei denen Millionen Menschen ums Leben kamen, wurden Leichen, soweit möglich, systematisch geborgen. Feuerpausen wurden zwischen unerbittlichen Feinden zu diesem Zwecke eingerichtet. Man versuchte, soweit es das Frontgeschehen zuließ, die Gefallenen in zurückliegenden Bereichen in Einzelgräbern zu bestatten. Nach Ende des Krieges erfolgte oftmals die Sammlung dieser Gräber auf anderen, zentralen Friedhöfen. Dem einzelnen Menschen sollte seine Würde gelassen werden, den Menschen seines Umfeldes die Möglichkeit der Trauer für ihn gegeben werden.
Aber selbst die Trauer konnte auf verschiedene Weise verstanden werden. Und dies ist für uns heute ein ganz zentraler Punkt:
Das „Humanitäre Völkerrecht“, das seinerzeit aufkam, mag diese Trauer einem jeden Menschen zugemessen haben, egal ob Gefreiter oder General, ob Soldat oder Zivilist. Der Begriff der Trauer, den man in Deutschland nach dem I. Weltkrieg empfand, war aber oft ein anderer: die Trauer um den Soldaten hatte immer noch Vorrang vor der Trauer um zivile Opfer und die Trauer um Soldaten wurde oft als Trauer um Helden verstanden.
Was aus dem Geist der Zeit heraus oftmals nicht verstanden werden konnte, war, dass es sich bei den Menschen, an deren Einzelgräbern man Gedenken übte und die auf Tafeln an Gedenkstätten genannt wurden, nicht um Helden, sondern um Opfer handelte. Um Zeugen eines schrecklichen und verbrecherischen Geschehens.
An der 1920 in Pullach eingeweihten alten Gedenkstätte auf dem Gelände der heutigen Kreissparkasse, erbaut von dem Pullacher Architekten Hermann Grünenwald, künstlerisch gestaltet von der Künstlerin Charlotte Peipers, wurde ein Gebet an den Heiligen Michael, den Schutzengel des Krieges, angebracht. Immerhin ein Gebet, wenn auch in sehr heroischer Sprache. An vielen anderen Orten in Deutschland wurde oftmals sehr unverhohlen an das Heldentum während des Krieges erinnert und an ein neues appelliert.
Heute stehen wir an der Gedenkstätte, die vor 60 Jahren eingeweiht wurde. Sie diente und dient der Erinnerung an die gefallenen, vermissten und verschollenen Soldaten des I. und II. Weltkriegs, an die Opfer aus den Vertriebenenfamilien des II. Weltkriegs, die sich hier nach dem Krieg niedergelassen haben und an die Opfer des Bombenkrieges.
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich der Blick für die Erinnerung, für das Gedenken deutlich geweitet. Wir gedenken der Menschen, die verfolgt, die systematisch vernichtet wurden. Wir gedenken der Menschen, die Widerstand gegen Gewalt, gegen Hass und Unmenschlichkeit geleistet haben. Wir gedenken der Opfer der Kriege der aktuellen Zeit und besinnen uns in Dankbarkeit darauf, dass wir in unserem Land auf 73 Jahre Frieden zurückblicken können. Wir besinnen uns auch auf unsere Verantwortung für eine Humanitäre Welt, in der Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung keinen Platz haben dürfen.
Verantwortung für die Zukunft, für den Frieden erfordert auch eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit historischen Zusammenhängen und der Verantwortlichkeiten für das jeweilige Geschehen. Im Großen wie im Kleinen.
Dazu dient die Beschäftigung mit den geschichtsträchtigen Orten in unserer Gemeinde.
Dazu dienen die Gedenkbücher zu den Pullacher Lebenswegen.
80 Jahre nach der schrecklichen Reichsprogromnacht und ihren Folgen konnten wir das Buch über die jüdische Bevölkerung Pullachs vorstellen. Die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, hat hierzu eine eindrucksvolle Rede im Bürgerhaus gehalten.
So erinnern wir an die Opfer des NS-Terrors, an die antisemitisch verfolgten Pullacherinnen und Pullacher und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Diese Menschen sind in tragischer und erschütternder Weise Zeugen für die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg.
Weitere Lebenswege sind in Vorbereitung und sollen beschrieben werden.
Es geht beim Gedenken am Volkstrauertag längst nicht mehr um Helden, sondern um Zeugen. Es geht nicht um den Krieg, sondern um den Frieden. Der Einsatz für den Frieden ist eine ständige Einladung und zugleich eine Gewähr dafür, dass dieser Gedenktag weiterlebt. Denn einmal im Jahr ist nicht zuviel, sich mit Zeugen an Vergangenes zu erinnern und dabei an die Zukunft zu denken und vor allem an eines: den Frieden.
18. November 2018