Reden Volkstrauertag 2021

80 Jahre ist es her: Der Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Es sollte die Unterjochung und Versklavung ganzer Völker beginnen. So war es in den Zielen des NS-Regimes festgelegt. Gleichzeitig begann die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und anderer Schicksalsgruppen – vom ersten Tage des Krieges an und systematisch vorbereitet. „Einsatzgruppen“ sollten diese Vernichtung entlang der gesamten östlichen Front durchführen.

Auf dem Gebiet der Ukraine wurden bereits Ende August 1941 in den Orten Kamjanez, Podolskyj und Berdytschiw Zehntausende Menschen, Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und sogar Säuglinge erschossen. In Babij Jar bei Kiew waren es am 29. und 30. September 1941 33.771 Menschen, nach penibler Zählung der SS.

Es ist unsere Aufgabe, die schrecklichen Ereignisse bei der Schlucht von Babij Jar wach zu halten. Gerade auch, weil Babij Jar nur 50 km von Baryschiwka entfernt liegt, der Pullacher Partnerkommune. Wir haben diesen Ort besucht, Ludwig Weber hat erst vor wenigen Wochen im Isar-Anzeiger erinnert.

In Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, lebten vor Beginn des Krieges 220.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger. Viele von ihnen flohen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen. 50.000 blieben in der Stadt. Am 29. und 30. September 1941 wurden fast zwei Drittel von ihnen ermordet. Das Mordwerk war systematisch organisiert und umfassend geplant. Auch die Ausführung war festgelegt: „Schießen müsst ihr“, so ist die Rollenverteilung zwischen Wehrmacht und SS überliefert.

Was an diesen Tagen im September 1941 in Babij Jar geschah, nahm folgenden Verlauf: Die jüdischen Bürger Kiews wurden am 27. September 1941 aufgerufen, sich in den Straßen zu sammeln. Sie folgten diesem Aufruf und ließen sich an den nordöstlichen Rand der Stadt führen, wo sich die Schlucht von Babij Jar befand. Babij Jar – übersetzt „Großmutters Schlucht“, war ein tief eingeschnittenes, ausgetrocknetes Flusstal. Noch in der Stadt mussten die Menschen an einem „Kontrollpunkt“ ihre Wertsachen abgeben.

Die Autorin Hanna Hrytsenko versucht das Ungeheure zu benennen. Sie erzählt, dass die Deutschen nur zehn Tage vor dem jüdischen Exodus Kiew eingenommen hatten, erzählt, dass die Leute nur die Grausamkeiten der Sowjets kannten und deshalb dachten, die Deutschen seien Befreier. Sie erzählt, dass fünf Tage nach dem Einmarsch das Stadtzentrum in Flammen aufging und die Nazis dies zum Anlass nahmen, die jüdische Bevölkerung aus der Stadt zu führen, direkt ins Verderben.

Im Bericht einer Überlebenden heißt es: „Die Menschen mussten sich bäuchlings auf die Leichen der Ermordeten legen und auf die Schüsse warten, die von oben kamen. Dann kam die nächste Gruppe. 36 Stunden lang kamen Juden und starben. Vielleicht waren die Menschen im Sterben und im Tod gleich, aber jeder war anders bis zum letzten Moment, jeder hatte andere Gedanken und Vorahnungen, bis alles klar war, und dann wurde alles schwarz.“

Schostakowitsch hatte in den 60er Jahren ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko vertont und damit dazu beigetragen, dass über Babij Jar in der Sowjetunion überhaupt gesprochen wurde. Paul Celan übersetzte ein paar Zeilen daraus: „Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und abertausend Begrabene hin.

Die Verbrechen von Kamjanez, Podolskyj, Berditschiw und Babij Jar waren lange Zeit kaum bekannt. Dass es 300 Orte in der heutigen Ukraine gibt, in denen jeweils mehr als 500 jüdische Bürgerinnen und Bürger erschossen worden sind, ist ebenfalls erst in den letzten Jahren deutlich geworden. Inzwischen wurden an vielen Orten bereits alte Gedenksteine wieder sichtbar gemacht oder Gedenkstätten errichtet.

Sie sollen nicht vergessen werden.

Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion, an den wir in diesem Jahr erinnern, verloren Millionen Menschen ihr Leben, Millionen Menschen starben als Soldaten: Die Sowjetunion verlor 11 400 000 Soldaten, zusätzlich 3 400 000 in deutscher Gefangenschaft.

2.700.000 deutsche Soldaten fielen, 1.100.000 verstarben in sowjetischer Gefangenschaft. Auf deutscher Seite hat der Krieg gegen die Sowjetunion mehr als die Hälfte aller Gefallenen des II. Weltkriegs gefordert.

Ihnen allen gedenken wir.

Am 12. September 2021 wurde in der Knesset des Massakers von Babij Jar gedacht. Der Leiter der Gedenkstätte Jad Vashem versprach dem 86-jährigen Michael Sidko, dem wohl letzten Überlebenden, der vor 80 Jahren dort Mutter und Schwester verloren hatte: „Wir werden es nicht zulassen, dass die Erinnerung verblasst: nicht um der dort Ermordeten und nicht um unserer selbst willen“.

Dieses Versprechen wollen wir halten.

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Die Rede von Heinrich Fischer, Vorsitzender der Soldatenkameradschaft Pullach finden Sie im Downloadbereich.

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