Schweren Herzens haben wir gemeinsam mit Heinrich Fischer, Vorsitzender der Pullacher Soldatenkameradschaft und unseren Pfarrern entschieden, dass der Volkstrauertag coronabedingt nicht in Form der eigentlich üblichen Veranstaltung stattfinden kann –insbesondere, da viele sogenannte Risikopersonen teilgenommen hätten. Für individuelle Besuche ist die Gedenkstätte am Sonntag trotz Absage der Veranstaltung geöffnet.
Der 8. Mai 2020, der 75. Jahrestag des Kriegsendes, ist angesichts der derzeitigen Umstände eher still und unbemerkt verlaufen und wird uns nicht in der Weise in Erinnerung bleiben wie der 8. Mai 1985, der 8. Mai 1995 oder der 8. Mai 2005, die bedeutende Veranstaltungen und Diskussionen mit sich gebracht haben.
Es ist nicht als Zynismus zu verstehen, wenn man dennoch feststellt, dass wir heute alltäglich an Zeiten der Not und des Krieges erinnert werden: „Ausgangssperre“, „Kontaktverbot“, „Versammlungsverbot“, „Hamstern“, „Seuchenschutzverordnung“, „Triage“, „Todeszahlen“ etc. – solche Wörter kennen wir eigentlich nur aus Erzählungen und Berichten über – Gott sei Dank – vergangene Zeiten; heute hören und lesen wir sie alltäglich. Man kann die Frage stellen, ob es sinnvoll und tunlich ist, einen Zusammenhang herzustellen zwischen diesem Heute der Pandemie, die uns in hohem Maße verunsichert und einschneidend und einschränkend auf unseren Alltag wirkt, zu den Kriegszeiten, an die wir uns am Volkstrauertag erinnern. Ich meine, dass man das wegen zweier Aspekte durchaus tun darf: wir werden am Ende diese Zeit meistern, zu einem normalen persönlichen und gesellschaftlichen Leben zurückfinden und wir werden feststellen, wie wichtig Gemeinschaft und Zusammenhalt in der Krise waren und zukünftig sind.
Die Erinnerung an Krieg und Gewaltherrschaft ist heute aber aus vielen Gründen immer aktuell und präsent: unser gesamtes Rechts- und Gesellschaftssystem ist aus den bitteren Erfahrungen und Folgen des Krieges und des NS-Regimes hervorgegangen; die Ablehnung von Gewalt im Politischen, Gesellschaftlichen und Persönlichen; die Ablehnung von rassistischen Ideologien, Verfolgung und Mord; der Schutz von Minderheiten und die Verteidigung der Menschenrechte als Staatsraison; Rechtstaatlichkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz; Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit – all dies war erst nach dem 8. Mai 1945 in Deutschland möglich. Ohne die Erfahrungen von Krieg und Gewaltherrschaft, Rechtlosigkeit und Willkür und ohne das Gedenken an Millionen Opfer von Krieg, NS-Terror und Verfolgung ist unser Staat nicht zu denken.
Die Erinnerung an den Krieg lebt bis heute zudem in vielen Menschen fort, die diese Zeit erlebt haben. Die Bevölkerungsstatistik unseres Landes gibt für die Geburtsjahrgänge, die heute über 80 Jahre alt sind (also die Geburtsjahrgänge bis 1940), eine Zahl von etwa 6 Millionen Menschen an. Die Jahrgänge, die heute zwischen 75 und 80 Jahren alt sind (also die Jahrgänge 1941 bis 1945) werden mit etwa 4 Millionen Menschen angegeben. Etwa 10 Millionen Menschen, also etwa ein Achtel der heutigen deutschen Bevölkerung, hat Kriegszeit erlebt – ein Großteil davon jahrelang und bewusst. Der heutige Wohnort vieler Familien ist eine Folge des Krieges, im schlimmsten Falle von Flucht und Vertreibung. Noch heute können materielle Verhältnisse einzelner Personen und Familien durch die Zäsur des Krieges bestimmt sein. Vor allem aber zeugt auch heute noch unzähliges persönliches Leid und gesundheitliche Not von den Folgen des Krieges.
Die Erinnerung an die NS-Diktatur, an Rassismus und Mord, lebt weltweit auch heute noch in zehntausenden Menschen fort, die seinerzeit verfolgt wurden. Einige von ihnen geben noch heute von ihren schrecklichen Erlebnissen und ihrem Schicksal Zeugnis in Zeitzeugengesprächen, anlässlich von Gedenkveranstaltungen, in dokumentarischen Filmen und durch Veröffentlichungen. Die Erinnerung dieser Menschen und vor allem die Erinnerung an die Millionen, die Verfolgung und Massenmord nicht überlebt haben, sind für uns von besonderer Bedeutung und Mahnung. Wir wollen dies auch in besonderer Weise bedenken, wenn wir hier in Pullach über Formen und Orte des Gedenkens diskutieren.
Es wird eine große Aufgabe sein, die Erinnerung weiterzutragen, wenn es Zeitzeugen nicht mehr gibt. Und aus dem eingangs Geschriebenen geht hervor, wie wichtig diese Erinnerung nicht nur für jeden Einzelnen, sondern für unsere Gesellschaft und unseren Staat ist. In diesem Sinne muss uns auch die Bedeutung des 8. Mai und des diesjährigen Volkstrauertages bewusst sein.
Es grüßt Sie herzlich
Ihre Susanna Tausendfreund
Erste Bürgermeisterin