Bürgerbrief: Dr.-Franz-Pollitzer-Straße

Als vor einigen Jahren, im Oktober 2010, die Umbenennung der damaligen Pietzschstraße, auch als Dr.-Albert-Pietzsch-Straße bekannt, diskutiert wurde, kam der zunächst nicht ganz ernst gemeinte Vorschlag, den Namen Industriestraße als Ersatz zu wählen. Am 19.10.2010 wurde verlegenheitshalber tatsächlich dieser Straßenname beschlossen. Wenigstens war nun dem Ansinnen Genüge getan, die Ehrung von Dr. Albert Pietzsch (1874 Zwickau – 1974 München) aufzuheben, denn er hatte zwar die Elektrochemischen Werke München (EWM) mitbegründet und langjährig geleitet, war aber großer Profiteur und Förderer der NS-Diktatur und stand der „Reichswirtschaftskammer“ vor.

In der Gemeinderatssitzung vom 22.11.2021 ist nun einstimmig die Umbenennung der Industriestraße in Dr.-Franz-Pollitzer-Straße beschlossen worden. Nun werden wir einen Mann ehren, der Opfer, am Ende Todesopfer, des NS-Regimes war. Möglich ist uns dies vor allem auch wegen unserer Erkenntnisse zur Person Franz Pollitzers, die Frau Dr. Susanne Meinl recherchiert und in dem Buch „Pullacher Lebenswege. Geschichte der antisemitisch verfolgten Bevölkerung“ (Pullacher Schriftenreihe, Band 8; 92 Seiten) zusammengetragen hat.

Franz Pollitzer (* 14.11.1885 in Gablonz/Neisse) verbrachte seine Kindheit und Jugend in Gablonz und Berlin, wo er Chemie studierte und schließlich diplomiert und promoviert wurde. 1911 trat er im Alter von nur 26 Jahren eine verantwortungsvolle Tätigkeit bei „Linde´s Eismaschinen“ in Höllriegelskreuth an, wo er bereits 1914 Leiter der Abteilung Chemie wurde. Gegen Ende der 1920er Jahre ließ Franz Pollitzer sich fest in Pullach nieder. Er heiratete die in Memmingen geborene Katharina Megele und errichtete ein Haus in der Großhesseloher Villenkolonie. Dass er schon bald, ab Januar 1933, wie hunderttausende andere jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zum Verfolgten werden würde, wird er kaum für möglich gehalten haben. Bereits ab Juli 1933 war er Betroffener eines frühen Gesetzes zur Ausgrenzung jüdischer Bürger. Das „Gesetz zum Widerruf von Einbürgerungen und zur Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ (14.07.1933) sollte jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland rechtlich zu Heimatlosen machen. Unter dem Schutz seines Arbeitgebers, der Firma Linde, konnten Franz Pollitzer, seine Frau und sein Sohn unbehelligt bis 1938 in Pullach leben. Erst als mit dem Novemberprogrom 1938, das zynisch „Reichskristallnacht“ genannt wurde, der Auswanderungsdruck massiv anstieg und er vier Wochen lang im Konzentrationslager Dachau interniert wurde, fasste er den Entschluss, Deutschland zu verlassen. Prof. Richard Linde verhalf ihm in Paris zu einer Anstellung bei „Air Liquide“. Gegen Zahlung des Gegenwertes seines Hauses als „Reichsfluchtsteuer“ konnte Franz Pollitzer mit seiner Familie aus dem Land fliehen. Behilflich war damals tatsächlich auch der genannte Albert Pietzsch, der Pollitzer als Wissenschaftler schätzte und darin wohl eher ein praktisches, als ein humanitäres Motiv hatte.

Bald jedoch, mit Kriegsausbruch, galten Franz Pollitzer und seine Familie in Frankreich als „feindliche Ausländer“. Es folgten Internierungen dort. Nach der deutschen Besetzung des Landes wurde er wiederum von den Nazis verfolgt. Schließlich wurde er aus seinem Rückzugsort Toulouse, das im nicht besetzten Teil Frankreichs lag, in das Internierungslager Saint Sulpice verschleppt. Von dort sandte er seiner Frau am 09.09.1942 einen letzten Brief, in dessen Postskript es heißt: „Im Übrigen denke ich in Liebe an all´ das Gute und Schöne, was Du mir im Laufe der fast 24 Jahre gegeben hast. Alles Bittere, alles Leid, das unvermeidlich war, tritt zurück. Es hat mir innerlich auch sein Gutes gebracht“. Einige Zeilen zuvor, gab er seiner Hoffnung Ausdruck: „Ich rechne bestimmt darauf, dass wir uns wiedersehen und noch gute Stunden miteinander verleben werden“.

Franz Pollitzer wurde Anfang September 1942 nach Auschwitz deportiert. Über seinen Verbleib gibt es keine weiteren Nachrichten.

Mit der Straßenbenennung nach Dr. Franz Pollitzer erfolgt nun die Ehrung des Wissenschaftlers und Opfers der Nationalsozialisten. Diese steht auch stellvertretend für die zahlreichen Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischer Herkunft, die zu Beginn des NS-Terrors noch in Pullach lebten. Viele dieser Lebenswege sind in dem oben genannten Buch nachgezeichnet. Es ist an der Pforte des Rathauses erhältlich.

Es grüßt Sie herzlich
Ihre Susanna Tausendfreund
Erste Bürgermeisterin

11.01.2022