Rede zum Volkstrauertag 2019

Am 1. September 1939 war der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Angriff des Deutschen Reiches, Hitler-Deutschlands auf Polen ist 80 Jahre her. Die Erinnerung ist wichtig, um der Wiederkehr der Ereignisse keinen Raum zu lassen. Es begannen seinerzeit Jahre des Krieges und des Mordens, die bis 1945 60 Millionen Menschenleben forderten.

In Polen war jeder sechste Bürger Opfer von Krieg, Verfolgung und Genozid. In der Sowjetunion starben im Krieg etwa 27 Millionen, in Deutschland sechseinhalb Millionen Menschen. Historiker gehen von 6 Millionen antisemitisch verfolgten und getöteten Menschen, 3,3 Millionen verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen, 219.000 Sinti und Roma, 250.000 Euthanasieopfern aus, und von etwa 3,3 Millionen nichtjüdischen Zivilisten vor allem in besetzten Länden, die durch Gewaltverbrechen und Krieg des NS-Regimes ihr Leben verloren haben.

Eine genaue „Buchführung“ über den Tod war und ist nicht möglich und auch nicht angemessen: Gewalt, Hass, Überheblichkeit und Verachtung hatten sich – ohne jedes Maß – verselbständigt.

Bereits zu Beginn der 1940er Jahre schlug der Krieg, der in alle Welt getragen worden war, auf die deutsche Bevölkerung zurück. Bombenangriffe forderten Hunderttausende Menschenleben. Die Fronten und Kriegsschauplätze verschoben sich in das Landesgebiet. Bei der Führung der Statistiken der Bombenopfer verlor selbst das Nazi-Regime die Übersicht, das in Sachen Mord einige Professionalität hatte und ein penibles Unterdrückungs- und Gleichschaltungssystem unterhielt. Auch erschienen den damaligen Machthabern manche Zahlen an Opfern nicht geeignet für Veröffentlichungen.

Eine Folge des Krieges war allerdings ein „Phänomen“, das wir heute noch sehr gut kennen: die massenhafte Flucht und Vertreibung von Millionen von Menschen.

Auch diese Folge wurde durch Krieg, Deportationen und „Umsiedlungen“ seitens des Deutschen Reiches begonnen, am Ende allerdings waren unter den Umhergetriebenen und Heimatlosen, den Befreiten und Deplaced Persons, den Vertrieben und umzusiedelnden – Millionen Deutsche. Man geht von 25 bis 34 Millionen Menschen dieses Landes aus, die seinerzeit auf ungewisser Reise waren, darunter 14 Millionen Menschen aus den Vertreibungsgebieten, den historischen deutschen Ostprovinzen. Aus dem „Volk ohne Raum“ war ein Volk ohne Heimat, Rast, Ruhe, Nahrung und Obdach geworden. In Pullach kamen damals Menschen all jener genannten Fluchtgruppen an.

Der nach den Wahlen vom 27.01.1946 abtretende Bürgermeister Hans Keis berichtet in einer Rede im Januar 1946 mit Blick auf das Kriegsende von folgender Situation:

„Seit dem 01. Mai 1945 sind nach Pullach 1383 Personen zugezogen, für die rund 602 Wohnplätze zur Verfügung gestellt werden mußten ….Außerdem mußten auf Befehl der Militärregierung im Spätherbst [1945] noch 212 Ausländer privat untergebracht werden und zwar unter Freimachung von Häusern….Ferner ist zu berücksichtigen, daß….10 größere Wohnhäuser und Wirtschaftsbetriebe beschlagnahmt sind, die für die Unterbringung und Versorgung Einheimischer in absehbarer Zeit nicht in Frage kommen, während die Bormann-Siedlung überhaupt vollkommen ausfällt.“

Und weiter:

„Um Ihnen einen Überblick über die seinerzeitige Flut an in Lagern festgesetzten und durchziehenden lebensmittelkartenmäßig festgestellten Ausländern und [„KZ-lern“] Häftlingen von Konzentrationslagern zu geben, dürften folgende Zahlen von Interesse sein: die Lager waren lange Zeit mit rund 1000 Leuten belegt, dazu kamen durchziehende, täglich im Durchschnitt 60 Leute…Mehr als 1100 Menschen, darunter ehemalige Häftlinge von Konzentrationslagern mußten mit Kleidungsstücken aller Art versorgt werden….Es war an manchen Tagen nicht leicht, die notwendigen Lebensmittel, insbesondere Brot, in erster Linie für die Ausländer heranzuschaffen, um Plünderungen zu vermeiden, denn die Lager und die Durchziehenden überschritten anfangs die tägliche Anzahl von 1000 Personen, wozu noch 3500 Ortsansässige kamen“.

Wir kennen ähnliche Berichte und Schilderungen aus den vergangenen Jahren – das Jahr 2015 lag genau 70 Jahre nach dem genannten Jahr 1945. Flüchtlinge kamen in großen Zahlen, Krieg und Mord trieben diese vor sich her. Hier musste für Nahrung, Kleidung und Obdach gesorgt werden – aus Solidarität, Menschlichkeit und Verbundenheit. Dabei haben viele ihre eigenen Erlebnisse aus der Zeit von Flucht und Vertreibung nach dem II. Weltkrieg nicht vergessen.

Nicht vergessen: das ist der Sinn unserer Zusammenkunft hier,

nicht vergessen: es sind die Opfer der Vergangenheit,

nicht vergessen: es sind die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft der Gegenwart,

nicht vergessen: das bedeutet, sich um Versöhnung bemühen,

dazu gehören unsere Partnerschaften mit Pauillac in Frankreich und Baryschiwka und Beresan in der Ukraine.

Nicht vergessen: es ist

die Mahnung an uns, die die Zukunft gestalten und prägen,

die Mahnung an uns, die Wissen und Erfahrung an die nächsten Generationen weitergeben,

die Mahnung an uns, die wir auch heute noch gefordert sind, rechtsextremen, rassistischen, nationalistischen Tendenzen Einhalt zu gebieten,

Die Vergangenheit als Chance begreifen ist unsere Aufgabe: aus der Geschichte lernen und Erfahrungen weitergeben.

Nie wieder Krieg, nie wieder Verfolgung, nie wieder Unterdrückung, nie wieder Völkermord.

Mit gegenseitigem Vertrauen, durch Verständnis und Respekt können wir dazu beitragen.

Der heutige Tag soll uns Zuversicht schenken, Frieden schaffen und erhalten und unseren Zusammenhalt festigen.

 

Text der Neuen Wache, Berlin

Seit 1993 dient die Neue Wache als Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Wir gedenken

der Völker, die durch Krieg gelitten haben.

Wir gedenken ihrer Bürger, die verfolgt wurden

und ihr Leben verloren.

Wir gedenken der Gefallenen der Weltkriege.

Wir gedenken der Unschuldigen,

die durch Krieg und Folgen des Krieges

in der Heimat, die in Gefangenschaft und

bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. 

Wir gedenken der Millionen ermordeter Juden.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma.

Wir gedenken aller, die umgebracht wurden

wegen ihrer Abstammung, ihrer Homosexualität

oder wegen Krankheit und Schwäche.

Wir gedenken aller Ermordeten,

deren Recht auf

Leben geleugnet wurde. 

Wir gedenken der Menschen,

die sterben mussten um ihrer religiösen oder

politischen Überzeugung willen.

Wir gedenken aller,

die Opfer der Gewaltherrschaft wurden

und unschuldig den Tod fanden. 

Wir gedenken der Frauen und Männer,

die im Widerstand gegen die Gewaltherrschaft

ihr Leben opferten.

Wir ehren alle, die eher den Tod hinnahmen,

als ihr Gewissen zu beugen. 

Wir gedenken der Frauen und Männer,

die verfolgt und ermordet wurden,

weil sie sich totalitärer Diktatur nach 1945

widersetzt haben.

 

17. November 2019