Rede zum Volkstrauertag 2017

Vor drei Wochen hatte ich die Gelegenheit, an einer Reise nach Krakau teilzunehmen, zusammen mit meinen Bürgermeisterkollegen aus dem Landkreis. Auch 72 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs hat bei den Teilnehmern der Reise – auch bei mir – der Besuch der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz, mit seinen Standorten, dem sogenannten „Stammlager“, Birkenau und Monowitz, einen tiefen Eindruck hinterlassen.

Beim Besuch der Gedenkorte werden Einzelschicksale begreifbar, obwohl mit der Tötungsmaschinerie, der unfassbar viele Menschen grausam zum Opfer fielen, nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Identitäten, ihre Besonderheiten und Geschichten vernichtet werden sollten.

Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen zu diesen Greueltaten fähig waren? Wir müssen diese Frage noch immer fassungslos und unbeantwortet im Raume stehen lassen. Sie stellt aber einen ständigen Auftrag dar, eine Antwort zu finden und für die Zukunft zu lernen.

Erinnerung ist schwer, sie kann nachwirken, kann erschüttern und verstören. Jeder schützt sich aber auch vor Erinnerungen, die nur schwer erträglich sind. Gemeinsam wollen wir uns deshalb heute ganz bewusst besinnen und Erinnerung wach halten.

Nicht vergessen werden wir einen jüdischen Bürger Pullachs, der in Auschwitz zu Tode kam. Von ihm will ich heute berichten:

Dr. Franz Pollitzer, geb. 1885 in Gablonz. Er war bei der Firma Linde beschäftigt. Es handelte sich um einen führenden Chemiker. Franz Pollitzer lebte von 1925 bis 1939 in Großhesselohe in der Hindenburgstraße, der heutigen Fritz-Gerlich-Straße.
Er wurde nach der Reichsprogromnacht am 11. November 1938 durch das NS-Regime verhaftet und musste zunächst einige Monate im Konzentrationslager Dachau erleiden. Von dort entlassen, konnte er sich zunächst zusammen mit seiner Frau weiterer Verfolgung und Entrechtung entziehen. Durch Vermittlung der Firma Linde siedelten sie sich in Paris an, wo Dr. Pollitzer eine Anstellung bei Air liquide erhielt. Nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen wurde er 1940 erneut verhaftet und in das Sammellager Drancy verbracht. Von dort aus wurde er am 9. September nach Auschwitz deportiert. Dort überlebte er nur noch wenige, wohl jämmerliche Tage.

Erinnerung ist wichtig, das ist die einfache Erkenntnis. Dies ist ein wichtiger Grund unserer Zusammenkunft hier. Wir gedenken dabei auch in besonderem Maße Menschen, die in Pullach gelebt haben und die in Krieg und Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben.
Erinnerung soll der Rückbesinnung und Mahnung dienen. Als eine „Notwendigkeit“ aus der Erkenntnis, dass es Frieden ohne Erinnerung nicht geben kann. Hier möchte ich den spanischen Philosophen George Santayana zitieren: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“.
Erinnerung verändert sich, vor allem wenn der Abstand zu den Ereignissen größer geworden ist.

Auch in Pullach können wir eine Wandlung in der Erinnerung feststellen, die über viele Jahrzehnte hinweg verlaufen ist und noch andauert:

Unmittelbar nach dem II. Weltkrieg konnte das Gedenken an die Toten und Vermissten zunächst nur „provisorisch“ sein. Nicht nur, dass man noch gar nicht alle Opfer aus der Gemeinde benennen konnte. Vor allem war ein Kriegsgedenken, wie man es traditionell kannte, nach dem mörderischen Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg, den man geführt hatte, nicht vorstellbar. Es musste bei den meisten Menschen nach allem Geschehenen ein Gefühl der Scham und der Schuld vorherrschen. Auch gab es Einschränkungen: So verboten Regelungen des Alliierten Kontrollrates bis zum Beginn der 1950er Jahre Gedenktafeln aufzustellen, Gedenkorte neu einzurichten und Veranstaltungen zum Gedenken abzuhalten. Man befürchtete, dass sie militärischen Charakter annehmen könnten – der Grundsatz der „Demilitarisierung“ der Potsdamer Konferenz von 1945 sollte auch auf den Friedhöfen gelten.

So wurde in Pullach zunächst ein „Gedenkhain“ auf dem Gemeindefriedhof errichtet, in dem Kreuze zu den gemeldeten und den Familien bekannt gewordenen Todesfällen aufgestellt wurden. Erst 1951 erfolgte der Guss von Gedenktafeln. Sie wurden am 18. November 1952 am „Tag der Opfer des Krieges“ zunächst noch am Ort der alten, nach dem I. Weltkrieg 1920 errichteten Kriegergedenkstätte mitten im Ort angebracht, dort wo später die Kreissparkasse gebaut wurde.

Das Denkmal, vor dem wir heute stehen, ist erst in den Jahren 1957/58 errichtet und anlässlich des Volkstrauertages 1958 eingeweiht worden. Es wird also im nächsten Jahr 60 Jahre alt. Das Gebäude wurde von Bruno Biehler erbaut, einem in der NS-Zeit und in der Zeit der jungen Bundesrepublik gefragten Architekten. Es zeigt viel von der Stimmung der damaligen Form des Gedenkens. Hier an der Hochleite und damit etwas außerhalb. Der geschlossene Charakter.

Zu der Zeit als das Gebäude entstand, gab es bereits die erste „Weitung“ in der Erinnerung: Auf den damals neu angefertigten Erinnerungstafeln wurden auch die Opfer der Vertriebenenfamilien genannt, die nun in Pullach eine neue Heimat gefunden hatten. Und die deutschen Opfer des Bombenkrieges wurden aufgeführt. Weitere Opfer fehlen noch, wie beispielsweise die Zwangsarbeiterinnen, die beim Bombenangriff am 19. Juli 1944 ums Leben kamen. Oder auch Menschen wie Dr. Franz Pollitzer, dessen Schicksal ich heute exemplarisch herausgestellt habe.

Über die nachfolgenden Jahrzehnte erfolgten nach und nach deutlichere „Weitungen“ des Gedenkens. Diese haben zwar noch keinen Niederschlag in der Architektur, den Tafeln oder zusätzlichen Denkmalelementen gefunden. Wohl aber in den Texten und Themen der Gedenkfeiern.

Auch heute gedenken wir „aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ bis in die Gegenwart hinein, wir gedenken aller Opfer, die durch Krieg gelitten haben, verfolgt wurden und ihr Leben verloren haben. Die Gefallenen der Weltkriege, die Vertriebenen, die Opfer des Völkermordes an den Juden, die Opfer unter den Zwangsarbeitern, Sinti und Roma. Menschen, die wegen ihrer sexuellen Ausrichtung, wegen Krankheit, Schwäche oder weil sie der Norm nicht entsprochen haben, verfolgt und umgebracht wurden. Auch Menschen, die Widerstand geleistet haben, gedenken wir.

Für ein sichtbares, begreifbares Gedenken an alle Opfergruppen auch in Pullach angemessen und individuell zu sorgen, bleibt unser Auftrag.

Im kommenden Jahr werden wir einen weiteren Band der Pullacher Schriftenreihe veröffentlichen, in dem die Schicksale der jüdischen Familien nachgezeichnet werden. Er ist bereits in Arbeit. Erinnerung wandelt und weitet sich im Laufe der Zeit und sie ist deutlich mehr als das Gegenteil von Vergessen. Dies macht in besonderem Maße die wichtige Gedenkstättenarbeit in Auschwitz deutlich.