Rede der Ersten Bürgermeisterin zum Volkstrauertag 2016

Wir denken an die Menschen, die in den beiden Weltkriegen zu Tode gekommen sind – als Soldaten oder als zivile Opfer. Wir erinnern an das tiefe Leid, das mit Verfolgung, Flucht und Vertreibung verbunden war – und das die Betroffenen ertragen mussten. Wir erinnern an die Opfer aller Kriege und an die Opfer von Terror und Gewaltherrschaft. „Die Vergangenheit“, so schreibt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, „lässt sich nicht einfach zu den Akten legen, dazu war sie zu leidvoll und folgenschwer“. Im Ersten Weltkrieg war es vor allem der grausame Stellungskampf, der in Erinnerung bleiben wird, ein besonders menschenverachtender Krieg. Es gab viele Orte und Regionen, die besonders gelitten haben. Der Name der kleinen ostfranzösischen Stadt Verdun erinnert an die Grausamkeiten, bei denen der Einzelne nichts mehr zählte. Ebenso die lange andauernde Schlacht an der Somme.  Selbst nach 100 Jahren sind diese schrecklichen Ereignisse präsent. Die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg, an die Ursachen und Folgen der Nazi-Diktatur betrifft uns alle noch stärker. Das Ausmaß der grausamen Taten während des zweiten Weltkriegs, der Verfolgung und der gezielten Tötungen, der Massenvernichtung von Menschen, die nach der damaligen Ideologie nicht ins Menschenbild passten, weil sie als unwert zu leben galten, macht uns heute noch fassungslos. In der Ukraine fanden große Kesselschlachten statt, auch in der Gegend von Baryschiwka und BereSan, mit denen wir seit 26 Jahren eine kommunale Partnerschaft pflegen.

An ein einschneidendes Ereignis möchte ich heute erinnern. Es liegt 75 Jahre zurück: Es ist das Massacker von Babij  Jar. Den Namen trägt eine Schlucht auf heutigem Kiewer Stadtgebiet.

Am 28. September 1941 wurden Bekanntmachungen über eine Evakuierung an die Kiewer Juden herausgegeben. Sie sollten sich am folgenden Tag in der Nähe des Bahnhofes einfinden und warme Kleidung, Geld sowie persönliche Dokumente und Wertgegenstände mitbringen. Diesem Aufruf folgten mehr Juden als erwartet. In Gruppen wurden sie aus der Stadt und zur Schlucht von Babij Jar geführt, mussten sich dort ihrer Kleidung entledigen und wurden dann entsprechend dem „Einsatzbefehl der Einsatzgruppe Nr. 101“ systematisch durch Maschinengewehr- und Maschinenpistolenfeuer erschossen. Bei den Erschießungen am 29. und 30. September 1941 wurden laut Ereignismeldung der SS-Einsatzgruppe C vom 2. Oktober 1941 innerhalb von 36 Stunden 33.771 Juden getötet. Es wurde akribisch Buch geführt. Bis Mitte Oktober stieg die Zahl der getöteten auf über 50 Tausend an. Bis 1943 folgten weitere Erschießungen.

Das Gedenken und die Erinnerungsarbeit an die Opfer dieser Taten konnte lange Zeit nicht stattfinden. Von den Tätern wurden versucht, die Massenerschießungen zu vertuschen. In der Sowjetunion wurde das Wissen um das Massaker von Regierungsseite manipuliert und unterdrückt. Zuzugestehen, dass die Nationalsozialisten vor allem Juden als Gruppe ermordet hatten, hätte für die sowjetische Regierung bedeutet, die Existenz der Juden als eigene Gruppe in der sowjetischen Gesellschaft anzuerkennen. Auch die Beteiligung von Kollaborateuren sollte nicht erwähnt werden. Ein Denkmal für die Opfer wurde zunächst verweigert.

„Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.“

Mit seinem Gedicht erlangte der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko 1961 Weltruhm. Im eigenen Land führte es zu heftigen Auseinandersetzungen, da er erstmals in der Sowjetunion an den Massenmord an Kiewer Juden von 1941 erinnerte und die Anklage gegen das deutsche Verbrechen mit dem offiziellen Antisemitismus im eigenen Land verband.

Heute ist es unsere Aufgabe, das Geschichtsbewusstsein zu stärken, dies ist auch im Sinne unserer Partnerschaft mit Baryschiwka und Beresan. 1989 stand ich das erste Mal dort, bei der Schlucht von Babij Jar, zusammen mit einer Gruppe aus Pullach. Endlich gibt es nun ein Mahnmal an dieser Stelle. Mit unseren ukrainischen Partnern haben wir bereits viele Wege der Versöhnung beschritten. Bei vielen Besuchen treffen wir uns bei der neu errichteten Kirche und den drei Gedenk-Orten: Es werden gemeinsam Blumen für die gefallenen Soldaten beider Seiten und für den Frieden niedergelegt. Mit großer Sorge beobachten wir die heutige Situation in der Ukraine. Unsere Gedanken sind deshalb gerade heute bei unseren Partnern, die mit kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes konfrontiert sind.

Auch heute haben Kriege Flucht vor dem Kriegsgeschehen und Vertreibung zur Folge. Die vielen Kriege am Rande Europas aber auch in Afrika sind Ursache für Flüchtlingsströme – die Menschen in Syrien sind besonders betroffen, aber auch andere Regionen dürfen nicht vergessen werden. Zunächst und abhängig vom Kriegsverlauf ist die direkte Nachbarschaft gefordert und oft überfordert. Ich denke z.B. an den Libanon. Auch zu uns kommen Vertriebene und Flüchtlinge. Es ist schwer ihnen zu sagen, dass wir nicht alle ihre Hoffnungen erfüllen können. Aber es darf kein Zweifel bestehen, dass wir hilfsbereit sind und den Menschen bei uns, so gut es geht, eine neue Heimat ermöglichen. An dieser Stelle danke ich allen Damen und Herren des Helferkreises, allen, die sich um die Geflüchteten kümmern. Wir handeln heute vor dem Hintergrund der Erfahrung der jüngsten deutschen und europäischen Geschichte und sollten dabei auch die nötigen Lehren ziehen.

Wir gedenken heute auch der Opfer terroristischer Anschläge. Genau vor einem Jahr haben die schrecklichen Anschläge in Paris, im Betaclan-Theater und an anderen Orten stattgefunden. Unsere Gedanken sind bei unseren Freunden in Frankreich, den Menschen in unserer Partnergemeinde Pauillac.

Meine Damen und Herren, wir stehen hier an der Hochleite und erinnern an die Verstorbenen. Wir öffnen die Herzen für Hilfe, wo sie nötig ist. Wir vertreten gemeinsame Werte. Dazu gehört auch, Verantwortung zu übernehmen. Zeigen wir diese Verantwortung.