Gedenken an den 8. Mai 1945

Das diesjährige Gedenken an den 8. Mai 1945, der nun ein Dreivierteljahrhundert zurückliegt, soll auch in Pullach nicht ganz von unserer derzeitigen Situation, die durch die Bewältigung der Corona-Krise bestimmt ist, verdrängt werden. Vielerorts mussten zentrale Gedenkfeiern wegen der notwendigen Einschränkungen unseres Alltags abgesagt werden: in deutschen Städten und Gemeinden können geplante Veranstaltungen und Feierlichkeiten nicht stattfinden, auch der vom Bundespräsidialamt im Januar ausgerufene Staatsakt zum 8. Mai musste abgesagt werden.

Besonders betroffen macht, dass nun auch den Vereinigungen und Verbänden der Opfer des NS-Regimes und den Gedenkstätten der Konzentrationslager und der Gedenkorte des Terrors ihre lange geplanten Gedenkveranstaltungen, zu denen noch lebende Zeitzeugen der Verfolgung geladen werden konnten, nicht mehr möglich sind. So mussten die Gedenkveranstaltungen in Auschwitz und an den Standorten vieler anderer Lager, die in den ersten Monaten des Jahres 1945 befreit wurden, abgesagt werden: so in Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Neuengamme, Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück, Mauthausen und Stutthof. Nach der Ermordung von 6 Millionen antisemitisch verfolgter Menschen und Millionen Menschen weiterer Opfergruppen der NS-Diktatur im Laufe der Jahre 1939 bis 1944 befanden sich in den Monaten Januar bis März 1945 noch fünfeinhalb Millionen Menschen in diesen Konzentrationslagern und 400 Nebenlagern des Regimes. Noch bis Anfang Mai 1945 erlitten dort zahllose Menschen den Tod.

Dass der 8. Mai 1945 für die unzähligen Opfer des Nationalsozialismus, für die zahlreichen Staaten, die im Laufe des Krieges unter deutsche Besatzung gekommen waren, und für Soldaten jedweder Nationalität, die sich in deutscher Gefangenschaft befanden, Feiertag und Tag des fortwährenden Gedenkens werden würde, verstand sich von selbst.

Weniger selbstverständlich war die Auffassung der deutschen Bevölkerung und des deutschen Staates zu diesem Datum – dies über lange Nachkriegsjahrzehnte hinweg. Ein tiefes Gefühl der Befreiung werden nur Deutsche empfunden haben, die selbst zu Opfern des Regimes geworden waren, manche Soldaten, die in brutalen und ausweglosen Situationen des Krieges und der Gefangenschaft das Verbrechen begriffen hatten, das im angezettelten Weltkrieg lag, und diejenigen, die sich des verbrecherischen Charakters der Hitler-Diktatur von Beginn an bewusst gewesen waren.

Insgesamt aber wurde im westlichen Deutschland mit dem Datum des 8. Mai lange fast ausschließlich die Niederlage konnotiert. Das Datum bezeichnete die „Stunde Null“ und die bedingungslose Kapitulation, den Beginn teils langer Kriegsgefangenschaftsjahre, den endgültigen Verlust der Heimat, die Teilung des Landes und den Anfang eines mühsamen und harten Wiederaufbaus. Vor allem aber gab es spätestens nach dem 8. Mai 1945 für die deutsche Bevölkerung in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS-Regimes keine Ausflucht und keinen Aufschub mehr.

Erst in den 1980er Jahren setzte in breiteren Bevölkerungsschichten ein Umdenken ein, das mit langjähriger, intensiver Aufarbeitung des Geschehenen, zum Teil erreichter Versöhnung und dem Wechsel der Generationen verbunden war. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zeigte mit seiner Rede zum 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag ein neues Verständnis auf: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung… Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht und Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“

Die Entwicklungen nach 1989 festigten dann in Deutschland dieses Verständnis des Vergangenen in großen Teilen der Bevölkerung. Das Ende des Kalten Krieges, die Überwindung der deutschen und der europäischen Teilung sowie die weiter fortschreitende Versöhnung und Zusammenarbeit der europäischen Völker haben Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl der Menschen weiter verändert und das Gefühl der Freiheit und Zusammengehörigkeit verstärkt.

Vor einigen Monaten, am 26. Januar 2020, also einen Tag vor dem Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, forderte Esther Bejanaro, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, im Namen des Auschwitz Komitees der Bundesrepublik Deutschland in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten.“

Die Diskussion um das Verständnis dieses bedeutenden Tages der Freiheit ist also noch lange nicht zu Ende.

Angesichts der augenblicklichen Umstände habe ich lange darüber nachgedacht, welches Gedenken an den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung nun möglich und tunlich ist. Es sind nicht nur die geltenden Kontaktbeschränkungen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens, sondern die andauernde Ungewissheit, vielerorts auch aktuelle existenzielle Sorgen und Trauer, die eine feierliche Würdigung dieses Tages erschweren. 

Wir werden nun beflaggen und an der europäischen, der deutschen und der Pullacher Fahne weiße Bänder anbringen.

Ferner wird die Gemeinde Pullach NS-Zeit und Krieg weiter mit Veröffentlichungen der Pullacher Schriftenreihe aufarbeiten. Augenblicklich ist nach Band 8 (Pullacher Lebenswege. Geschichte der antisemitisch verfolgten Bevölkerung) der Anschlussband zur Zwangsarbeit in Pullach in Bearbeitung.

Ich möchte in diesem Zusammenhang alle Pullacherinnen und Pullacher dazu aufrufen, der Gemeinde gegebenenfalls vorhandene Unterlagen und Fotos aus der Kriegszeit zur Auswertung zur Verfügung zu stellen. Von Interesse wären Belege von Mitbürgern, die seinerzeit in den Krieg einberufen wurden, von Kriegseinwirkungen, -ereignissen und -handlungen in Pullach. Im Hinblick auf die laufende Publikation zur Zwangsarbeit in Pullach wären zudem Angaben zu Lagern, gegebenenfalls Fotos von Unterbringungsorten oder Zwangsarbeitsverpflichteten und auch zeitgenössische Aufzeichnungen von Interesse.

Es grüßt Sie herzlich

Ihre Susanna Tausendfreund
Erste Bürgermeisterin

30. April 2020