Bürgerbrief: Pullachs Ehrenbürger Erwin Deprosse ist 90 Jahre alt

Wenn man 90 Jahre alt ist, dann hat man in der Regel viel erlebt, über das es zu berichten lohnt. Lebt man von diesen 90 Jahren bereits 85 Jahre in Pullach, hat verschiedene verantwortungsvolle Stationen im Rathaus und etliche Ehrenämter im Ort durchlaufen und verwaltet mit 90 Jahren noch immer das Archiv der Gemeinde mit, dann sind die Geschichten umso vielfältiger und fesselnder. Um ein paar davon anzuhören und mit Ihnen teilen zu können, habe ich mich genau eine Woche vor seinem runden Geburtstag mit Erwin Deprosse zum Tischgespräch verabredet. Obwohl wir uns bereits seit seiner Zeit als Geschäftsleiter der Gemeinde (bis 1996) kennen – ab 1984 war ich junge Gemeinderätin und habe während meines juristischen Praktikums im Rathaus viel von ihm gelernt – gibt es doch immer wieder Neues zu erfahren, wenn „das Gedächtnis von Pullach“ ins Erzählen kommt.

Dabei war es der Zufall, der ihn nach Pullach brachte: Mit dem Ruhestand des Großvaters musste dieser die Dienstwohnung in der Stadt aufgeben und es stand zufällig ein Haus in der Habenschadenstraße in Pullach frei. Familie Deprosse zog ein und fortan war der damals fünfjährige Erwin Deprosse Pullacher – und ist es zum Glück bis heute geblieben. Bei seinem ersten Spieltreffen mit Nachbarskindern staunte er nicht schlecht, als nach dem abendlichen Glockenschlag alle Kinder in Windeseile in ihren Häusern verschwanden. Zum Glück erbarmte sich ein Mädchen, das verdutzte Stadtkind doch noch aufzuklären: „Schau dassd hoam kimmst, des wars Gebetsleitn!“ Die „Alte Kirche“ auf dem Kirchplatz, die damals zum Gebet geläutet hat, ist noch immer Pullachs Wahrzeichen. Die Glocken allerdings sind nicht mehr dieselben, wie ich von Deprosse erfahre. Im Zweiten Weltkrieg war Bronze ein „begehrter“ Rohstoff und so wurden sie zerschlagen, um sie transportieren und einschmelzen zu können. Daraufhin bastelte kurzerhand der alte Schmied Herr Huther provisorische Glocken aus den Böden von Sauerstoffflaschen, damit es wieder ein Zeitläuten in Pullach gab.

Auch von der Kriegszeit als Jugendlicher in Pullach berichtet Herr Deprosse. Von Fliegerbombenangriffen, Brandbomben und den vielen Bränden in dieser Zeit – „heute ist das unvorstellbar!“. 1948 fand er selbst den Weg zur Freiwilligen Feuerwehr, wo er in 36 Jahren aktivem Dienst mit dem Schwerpunkt Atemschutz an unzähligen gefährlichen Einsätzen beteiligt war. Nicht umsonst ist er Inhaber des Steckkreuzes, der höchsten bayerischen Feuerwehrauszeichnung. Teamleistung, das ist seine Stärke und führte ihn auch mit seiner Frau Karin zusammen. Die war für ihr Judo-Training immer extra in die Stadt gefahren, bis eine Freundin ihr berichtete, dass es auch in Pullach Sportkurse gibt, die ein „sehr netter junger Mann“ leitet. Der junge Mann hieß Erwin Deprosse und freute sich sehr über die neue Kursteilnehmerin, mit der er seit nunmehr 54 Jahren verheiratet ist. Auch Skigymnastik und Lauftreffs hat er organisiert, sowie Handball- und Volleyballkurse gegeben. Eine seiner Kursteilnehmerinnen, Magdalena Wunderlich, holte 1972 als Kanutin Bronze bei den olympischen Spielen in München. Die Härte dafür, das hat sie ihm erzählt, habe sie in Deprosses fordernden Sitzfußball-Einheiten gewonnen.

Nach diesen Ausführungen wird es kaum noch jemanden wundern, dass Herr Deprosse in seinem Leben 11 Marathons gelaufen ist. Einen besonders anstrengenden in unserer Partnerstadt Pauillac, wo ein Mitstreiter ihn am Ende aus Respekt vor seiner Ausdauer wohlwollend vor sich selbst ins Ziel schob – zur Belohnung gab es bei den anschließenden Feierlichkeiten einen Bayerischen Defiliermarsch.

Sein unerschöpfliches Engagement für Pullach und unsere zwei Partnergemeinden kann man durchaus als den zwölften Marathon in seinem Leben bezeichnen, für den er jeden Tag viele Schritte läuft. Denn er hat beide Partnerschaften von Anfang an mit erheblichem Zeitaufwand und Einsatz begleitet. Besonders in Erinnerung ist ihm geblieben, wie er ein Ultraschallgerät nach Baryschiwka gefahren hat. Die Gemeinde hatte es damals für 25.000 Mark gekauft, um den Freunden in Baryschiwka in der schweren Lage zu helfen. Denn nach dem Reaktor-Unglück in Tschernobyl wurden viele Menschen, die im verstrahlten Gebiet lebten, in unsere Partnerkommune umgesiedelt oder dort medizinisch versorgt. Und nichts lag ferner, als den der hohen Strahlung ausgesetzten Menschen durch Röntgen weitere Strahlen zuzuführen. Dass beide Partnerschaften auch heute noch – selbst unter den erschwerten Corona-Bedingungen – so intensiv gelebt werden, das freut Herrn Deprosse besonders. 

Und ich freue mich ganz besonders über jeden Tag, an dem Herrn Deprosse mit seinen 90 Jahren in unser Rathaus radelt, das Archiv der Gemeinde pflegt und jeder Kollegin und jedem Kollegin ein Lächeln und freundliche Worte schenkt.  Angesprochen auf seinen nahenden 90. Geburtstag sagt er „ich kann‘s selbst kaum glauben!“. Genauso geht es mir auch, denn seine Geschichten sind noch genauso schwungvoll, wie die des „jungen, sportlichen, sehr zuvorkommenden“ Mannes aus dem Rathaus, von dem mein Vater mir einst erzählte. Ich gratuliere Herrn Deprosse ganz herzlich zum runden Geburtstag. Wenn die Corona-Lage es wieder zulässt, können unsere Bürgerinnen und Bürger sich hoffentlich auf weitere ortsgeschichtliche Führungen mit ihm freuen. Auch hoffe ich, dass der kommende Fasching wieder gefeiert werden kann und wir Herrn Deprosse und seine Frau dort wieder begrüßen dürfen, schließlich ist der Fasching eine seiner großen Leidenschaften: „Der Faschingsdienstag mit den Schwanecker Rittern war immer ein Höhepunkt in Pullach.“

Wer mehr über die Geschichte Pullachs erfahren will, dem empfehle ich die beiden Filme mit Herrn Deprosse über unseren Ort sowie die Bände der Pullacher Schriftenreihe, an denen Herr Deprosse maßgeblich mitgewirkt hat. Sie können im Rathaus erworben werden.

Es grüßt Sie herzlich
Ihre Susanna Tausendfreund
Erste Bürgermeisterin

19.05.2021