Bürgerbrief: Volkstrauertag 2022

Diese Woche veröffentliche ich im Bürgerbrief meine Rede zum Volkstrauertag am 13. November für all jene unter Ihnen, die am Sonntag nicht dabei waren. Die Rede von Heinrich Fischer, Vorsitzender der Pullacher Soldatenkameradschaft, finden Sie im Anschluß.

Der Frieden in Europa endete am 24. Februar 2022
Vor 100 Jahren, am 12. März 1922, fand im Berliner Reichstag die erste Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag statt. Damals hielt Reichstagspräsident Paul Löbe eine vielbeachtete Rede, die weit über den Tag hinaus dem Gedenktag Sinn und Bedeutung gab und auch heute noch gibt. Löbe sagte in seinem Kernsatz: „… Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet die Abkehr vom Hass und die Hinkehr zur Liebe – und unsere Welt hat Liebe not …“.

In Pullach fand seinerzeit ebenfalls ein Gedenken statt – an der ersten, 1921 fertiggestellten Gedenkstätte auf dem Grundstück der heutigen Kreissparkassen-Filiale.

In der NS-Zeit wurde der Volkstrauertag zum staatlich verordneten „Heldengedenktag“. Alle, die aus politischen oder „rassischen“ Gründen nicht zur „NS-Volksgemeinschaft“ gehörten, wurden aus dem Gedenken verbannt, wie die jüdischen Wehrmachtssoldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren. 1952 wurde der Volkstrauertag wieder als Tag der „nationalen Trauer“ eingeführt – in Abgrenzung zum nationalsozialistischen Heldengedenken.

In Pullach kam 14 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag hierher an die Hochleite.

77 Jahre herrschte Frieden in Europa, bis am 24.02.2022 der von Putin befohlene russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Der Friede war für uns Normalität, eine Selbstverständlichkeit geworden. Und wir haben offenbar verlernt, Gefahren für den Frieden zu erkennen und richtig einzuschätzen.

Heute haben die Worte Paul Löbes einen anderen Klang für uns, als noch vor einem Jahr. Heute hat auch diese Veranstaltung eine andere Bedeutung für uns, als noch vor einem Jahr: jetzt müssen wir wieder „Kriegswunden, Trauer und Leid“ sehen. Wir hatten geglaubt, das alles sei ein für alle Mal vorbei. Und noch ein déjà vu haben wir: wieder ist die Ukraine Schauplatz eines Krieges, die vor der heutigen Eigenstaatlichkeit (die durch Russland bestritten und bekämpft wird), nur drei Jahre unabhängig war und zwar zwischen 1917 und 1920. Die gesamte Zeit von da an, bis zum Zerfall der Sowjetunion und der zweiten Unabhängigkeit, war die Ukraine voll von Kriegen:

  • dem Ersten Weltkrieg, als das Land zwischen 1914 und 1917 eines der großen Schlachtfelder des Krieges gegen Russland war,
  • dem Krieg zwischen Polen und Russland zu Beginn der 1920er Jahre,
  • dem Zweiten Weltkrieg, in dem die deutsche Besatzung und Rassenwahn Millionen von gefallenen Soldaten, den gezielten Tod der jüdischen Bevölkerung und wahllos Leid und Tod in der gesamten Bevölkerung verursachte.

Dazwischen verursachten Kollektivierung und Hungersnot unter den Sowjets zu Beginn der 1930er Jahre hunderttausende Tote: der Holodomor, Tod durch Hunger. Und während des Zweiten Weltkriegs wurden hunderttausende Ukrainer als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Wir kennen inzwischen auch einzelne Lebensgeschichten von Ukrainerinnen, die in unsere Gemeinde kamen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten die „Verschiebung“ des Landes nach Westen und der Verlust historischer Gebiete im Osten, ein systematischer Bevölkerungsaustausch und die Bekämpfung der ukrainischen Kultur in der Sowjetunion.

In der Ukraine bleibt heute kaum Zeit, das gegenwärtige Leid zu betrauern, für das vergangene der letzten 110 Jahre hat es meist keine Orte und keine Erlaubnis gegeben. Ihre Millionen Gefallenen und ermordeten Kriegsgefangenen gelten als Russen oder Sowjetsoldaten, nirgendwo ist von Ukrainern die Rede. Für die Ukrainer gibt es kaum eigene Gedenkstätten und Friedhöfe. Erst 1993 konnte ein Denkmal für die Toten des Holodomor in Kiew errichtet werden.

Wir wollen heute unser Gedenken auf die Situation der Ukraine und der ukrainischen Bevölkerung richten.

Dabei wollen wir eines nicht vergessen: Wir können nicht in die Menschen hineinschauen, aber wir erahnen, dass zehntausende russischer Soldaten absichts- und ahnungslos in den Krieg gestoßen worden sind und Zehntausende gegen ihren Willen nachrücken müssen. Auch diese haben ein Gedenken und Mitleid verdient. Wir hoffen, dass es ihnen und ihren Angehörigen gelingt, sich gegen das russische Regime zu stellen und damit für einen Frieden eine große Rolle zu spielen.

Ich möchte abschließen mit Zitaten von zwei jungen Menschen aus Deutschland und aus Polen auf einer Gedenkveranstaltung im Mai bei der Kriegsgräberstätte im italienischen Cassino:

„Krieg war für uns so weit weg. Plötzlich ist die Geschichte von früher wieder da. Wie kann man versuchen, weitere Kriege zu verhindern?“

„Frieden ist unbezahlbar und der wichtigste Wert, nach dem jede Nation streben sollte. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine weitere Generation junger Europäer verloren geht. Erinnern wir uns also an diejenigen, deren Leben im Zweiten Weltkrieg an den Hängen dieser Hügel endete. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen.“

Es grüßt Sie herzlich
Ihre Susanna Tausendfreund
Erste Bürgermeisterin

Verehrte Anwesende unserer Gedenkfeier zum Volkstrauertag,
Krieg und Frieden, diese Worte haben seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands am 24. Februar auf die Ukraine ein ganz anders Gewicht bekommen. Was wir uns alle nicht haben vorstellen können, ist bittere Realität. 77 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges eine tiefgreifende Erschütterung der europäischen Friedensordnung. Tausende von Toten und Verwundeten sind zu beklagen, Soldaten und Zivilisten, zerstörte Dörfer und Städte, Millionen Menschen auf der Flucht.

100 Jahre Volkstrauertag: Am 5. März 1922 richtete der Volksbund im Reichstag erstmals eine Gedenkstunde zum Volkstrauertag aus, bei der Reichstagspräsident Paul Löbe als Hauptredner auftrat und zur Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner aufrief.

An weiteren bedeutenden historischen Anlässen hätte es auch im dritten Pandemiejahr nicht gemangelt, insbesondere wenn man auf Ereignisse zurückblickt, die sich heuer zum 80. Mal jähren:

Da ist als Teil des dunkelsten Kapitels der Geschichte die sog. „Wannseekonferenz“ am 20. Januar 1942 in Berlin. Ihr Hauptzweck war es, die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas in den Osten und deren systematische Vernichtung zu organisieren.

Am 23. August 1942 begann die Schlacht von Stalingrad, am 22. November schloss sich der Ring der sowjetischen Truppen um die 6. Armee.

Das Flächenbombardement von Lübeck durch die Royal Air Force in der Nacht zum Palmsonntag und der erste 1000-Bomber-Angriff auf Köln Ende Mai 1942 leiteten eine neue Phase im Luftkrieg gegen das Deutsche Reich und dessen Zivilbevölkerung ein.

Über 60 Millionen Menschen verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben. 2,8 Millionen Tote auf 832 Kriegsgräberstätten des Volksbundes weltweit und 167.000 Kriegstote verschiedener Nationen in Bayern erinnern an den Preis, den die Menschheit zahlen musste.

Noch immer werden Tote entdeckt, deren Überreste geborgen, manche identifiziert und in bestehende Kriegsgräberstätten umgebettet.

Doch Russlands Angriff auf die Ukraine hat alles verändert, auch für die Arbeit des Volksbundes. Die Umbetter arbeiten unter extremen Bedingungen, aber ihre Aufgabe duldet keinen Aufschub. So haben z. B. alte Pläne und Aufzeichnungen ergeben, dass bei der ukrainischen 200.000-Einwohner-Stadt Bila Zerkwa, was übersetzt „Weiße Kirche“ bedeutet, mehr als 1.600 Tote liegen könnten. Doch nach dem Angriff Russlands war die Arbeit des Volksbundes zum Erliegen gekommen. Mitarbeiter des Umbettungsdienstes wurden zur Armee eingezogen, ihre Familien flüchteten nach Deutschland oder in andere sichere Länder.

Die Ukraine, knapp doppelt so groß wie Deutschland, wurde von der Regierung in eine rote Zone – überwiegend im Osten und nahe der Krim, in eine gelbe Zone in der Mitte des Landes und eine grüne Zone im Westen der Ukraine, eingeteilt. Nur in der grünen Zone können die Arbeiten weiterlaufen, wenn sie nicht in der Nähe gefährdeter Infrastruktur sind.

Dabei führt der Krieg zu Szenen, die einen nur ungläubig den Kopf schütteln lassen. So haben ukrainischen Soldaten in der Nähe der Stadt Wyschgorod – vor ein paar Monaten noch gelbe Zone – beim Bau von Verteidigungsstellungen gegen die Russen die Gebeine deutscher Soldaten entdeckt. Ungeachtet der Kämpfe mit russischen Angreifern legten sie die Knochen und Ausrüstungsgegenstände vorsichtig frei und übergaben sie dem Volksbund. Damit verteidigen sie nicht nur unsere Freiheit, sondern tragen dazu bei, dass die Toten nicht schweigen.

Die Toten schweigen nicht, sie sprechen leise zu uns:

  • Mein Erfrieren in der eisigen Steppe
  • Mein Ertrinken im Atlantik
  • Mein Verhungern während der Belagerung
  • Mein Verdursten in der Wüste Nordafrikas
  • Mein Verbrennen im nächtlichen Bombenhagel

Wir dürfen nicht aufhören, den Toten von Krieg und Gewaltherrschaft Gehör zu verschaffen.

In diesem Sinne denken wir heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren. Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind. Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land. Wir trauern insbesondere um die Opfer der russischen Aggression in der Ukraine. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

Mit Rücksicht auf die Menschen, die bei uns wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine Zuflucht gefunden haben, wollen wir heute ohne den Knall des Gedenksaluts der Toten gedenken.  Zum Gedenken senkt die Fahnen!

Heinrich Fischer, Vorsitzender der Soldatenkameradschaft Pullach