Rede der Ersten Bürgermeisterin zum Volkstrauertag 2015

Die Nachrichten über die schweren Attentate in Paris haben uns zutiefst betroffen gemacht. Wir sind in diesen Momenten des Entsetzens, des Schmerzes und der Trauer bei unseren Freunden in Frankreich. Wir wollen ihnen allen unser aufrichtiges Mitgefühl mitteilen. In diesem schmerzlichen Augenblick sind wir fest in Gedanken bei unseren Freunden. Wie schon nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar habe ich bereits ein entsprechendes Schreiben an den Bürgermeister unserer Partnergemeinde in Pauillac gerichtet.

Im letzten Jahr erinnerten wir uns hier an der Gedächtnisstätte an der Hochleite an den Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914.
Noch immer stehen uns die Bilder dieses Krieges mit der Vernichtung ganzer Landstriche, mit Schlachten in Stellungsgräben und mit Giftgasangriffen vor Augen.
„Die Soldaten zogen in einen  Krieg, in dem das Töten industrialisiert wurde, in dem erstmals Panzer und Giftgas eingesetzt wurden“, so beschreibt ein Zeitungsbericht vom Wochenende die damalige Situation.
Dies war ein in seiner Grausamkeit und der Dimension des Tötens bis dahin unbekannter Krieg.

Am heutigen Volkstrauertag erinnern wir uns an den Zweiten Weltkrieg und sein Ende am 8. und 9. Mai 1945 in Europa.
Der Krieg in Asien ging noch einige Monate weiter.
Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki mit den über 200 Tausend Toten am 6. und 9. August setzten keine Schlusspunkte. Die Folgen der Bombardierung wirken sich noch immer aus.

Wir denken an die Gefallenen und die zivilen Opfer von totalitärer Diktatur und Krieg.
Wir denken an jene, die durch rassistische Verfolgung zu Tode kamen, an jene die der Unmenschlichkeit entgegengetreten sind, an Widerständler.
Wir denken an die Mitglieder der jüdischen Familien, die in Pullach wohnten und nach 1933 entweder Selbstmord begingen oder Pullach verlassen mussten und später durch die Nationalsozialisten ums Leben gebracht wurden.

Wir denken auch an den 19. Juli 1944.
An diesem Tag wurde ein alliierter Bombenangriff auf die Industrie in Höllriegelskreuth geflogen. Er traf nicht nur die Fabriken,
sondern auch 9 Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine und aus Polen und 20 weitere Personen wurden getötet.

Wir denken auch an den amerikanischen Soldaten, der am selben Tag in Pullach von aufgebrachten NS-Tätern erschossen wurde, nach dem er sich mit dem Fallschirm aus dem abstürzenden Flugzeug retten konnte.
Es muss aber die gesamte Geschichte erzählt werden, denn diese Tat hatte weitere Folgen: Anstatt den Mörder, der gleichzeitig NS-Ortsgruppenführer war, vor Gericht zu stellen, wurde er nach dem Einmarsch der Amerikaner bei den Verhören erschlagen und seine Frau beging Selbstmord.

Insgesamt kostete der Zweite Weltkrieg mehr als 55 Millionen Menschen das Leben.

Der 8. Mai 1945 bedeutete das Ende des massenhaften Sterbens an den Fronten, das Ende des Bombenhagels und der flächenhaften Verwüstung zahlreicher Städte.

Das Ende der NS-Herrschaft war nicht nur für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und den KZ-Insassen die lang ersehnte Befreiung.
Vorausgesetzt, sie hatten die Grausamkeiten überlebt.

Alle waren befreit von der Herrschaft des Nationalsozialismus.

Für andere, meist auch Unschuldige, begann eine Gefangenschaft in den Ländern der damaligen Kriegsgegner.
Viele verloren dort ihr Leben, einige kamen erst nach 10 Jahren zurück.

Und für 12 Millionen bedeuteten Flucht und Vertreibung den Verlust der Heimat.

Viele Menschen wussten einfach nicht, wie es weitergehen soll!

Wir denken an das Leiden der Überlebenden.
An das Leben in Ruinen, an Hungersnöte zum Beispiel im bitterkalten Winter 1946 ohne Brennmaterial.
An ein Leben, das häufig nur Existieren war – in ganz Europa.

Wurden aus dieser Vergangenheit Lehren gezogen?

Die Kriege und Bürgerkriege im Nahen Osten weisen darauf hin, dass noch große ideologische und materielle Gegensätze bestehen,
dass es Kriegsgewinnler und schwer einzuschätzende, kriminelle Strukturen gibt, die an einem Ausgleich der Interessen nicht interessiert sind.

Vor allem aber:
Das Leiden der Menschen spielte von jeher für viele Herrschende keine Rolle.
Und die Not von Flüchtlingen wird ausgenutzt, ihr Tod wird billigend in Kauf genommen.

Die Toten im Mittelmeer, die Flüchtlingswellen auf der Balkan-Route, an unseren Grenzen und in unserem Land klagen an und fordern unsere Solidarität ein.

Der Empfang der in Not geratenen Menschen durch unsere Bürgerinnen und Bürger wird international begrüßt, aber es gibt auch fremdenfeindliche Übergriffe auf Flüchtlingsheime, bewohnte und unbewohnte.
Reden von Extremisten zeigen auf, dass Werte der Demokratie und des Rechtsstaats, dass die Bedeutung des Menschen als Individuum auch heute gefährdet sind.

Nach dem 2. Weltkrieg sollten die Menschenrechte umgesetzt werden, so waren zumindest sehr viele der Meinung. Die UNO wurde gegründet, die Menschenrechtserklärung sollte das Fundament für eine Zeit nach den beiden Weltkriegen werden.
Und angesichts der Erfahrungen der NS-Diktatur, des vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden zweiten Weltkriegs und der Gegenwart der stalinistischen Diktatur wurde für die Bundesrepublik Deutschland ein Grundgesetz verfasst, dem die „Würde des Menschen“ voranstellt ist.
Sie ist „unantastbar“, sagt unsere Verfassung.

Andere europäische Staaten betonten die „westlichen Werte“.
Tatsächlich spielten jedoch vielfach wirtschaftliche Interessen für den  Beitritt zur Europäischen Union die entscheidende Rolle.

Alle europäischen Staaten sollten Rechtsstaatlichkeit und Demokratieprinzip und die Menschenwürde als Grundlage anerkennen.
Die Rückkehr in nationalstaatliches Denken gefährdet den europäischen Frieden, den großen Gewinn nach den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts.

Ich bin der Überzeugung, dass angesichts der Flüchtlingswellen und der Toten im Mittelmeer diese Werte wieder konkretisiert und aktualisiert werden müssen.

Meine Damen und Herren, ich bitte nun um Ihre Aufmerksamkeit für das Totengedenken, das anlässlich der aktuellen Ereignisse ergänzt werden muss um die Opfer der Terroranschläge in Paris mit einer unglaublichen Zahl von Toten und Verletzten.